Michael F. Feldkamp
CORPS - Das Magazin Ausgabe 2/2023
Auf die Frage: „Wer ist Theodor Körner?", würden heute die meisten Menschen keine Antwort finden. Suchen wir zunächst eine bibliografische und dann im zweiten Schritt eine biografische Annäherung an Theodor Körner. Gerade in unserer heutigen sogenannten Informationsgesellschaft ist ein Blick ins Internetlexikon Wildpedia unverzichtbar. Und die Smartphone-Besitzer werden es vermutlich schnell nachholen. Aber wie sieht es mit unserer Fachliteratur aus? In der wissenschaftlichen Fachliteratur zur Napoleonischen Epoche wird der deutsche Freiheitskämpfer und Dichter Theodor Körner immer genannt. Denn sein Heldenmut steht für eine ganze Generation junger deutscher Männer, die sich von der französischen Besatzungsmacht mit Gewalt befreien und ein selbstbestimmtes einiges deutsches Vaterland begründen wollten. Doch schon in der Überblicksliteratur zur Deutschen Geschichte sieht der Befund sehr unterschiedlich aus: Die 9-bändige „Propyläen Deutsche Geschichte" — lange Zeit ein „Muss" jedes Intellektuellenhaushalts — erwähnt Theodor Körner in ihren verschiedenen Auflagen vor und auch nach der Wiedervereinigung im Jahr 1990. Doch bereits das in den vergangenen 25 Jahren erschienene 24 Bände umfassende „Handbuch der deutschen Geschichte" (10. Auflage) kommt bemerkenswerterweise ohne Körner aus.
In der DDR wiederum wurde in den einschlägigen Kapiteln der Geschichtshandbücher recht ausführlich des bekanntesten Vertreters der politischen Dichtung dieser Epoche gedacht, dessen Vater immerhin ein Freund von Friedrich von Schiller war. Und in einem DDR-Roman, der die Rolle Körners ein wenig überhöht und glorifiziert, wird das Bild eines freiheitsliebenden Körners gezeichnet, das sich problemlos in das Geschichtsbild des sozialistischen Unrechtsstaates auf deutschem Boden einfügt. — Aber es ist ja bekannt, dass man am meisten über das redet, was abwesend ist oder wovon man am wenigsten hat. Ein kleiner Trost mag sein, dass immerhin die einschlägigen Literaturlexika den Zeitgenossen von Schiller und Goethe noch sehr gut kennen und seine Werke behandeln!
Aber was ist passiert, wenn heute schon die — für Geschichtsstudenten verfasste — wissenschaftliche Einstiegsliteratur auf Theodor Körner verzichtet? Und was hat das für Folgen? Schon an dieser Stelle können wir festhalten, dass nicht nur der Dichter Körner vergessen scheint, sondern auch der politische Schriftsteller und Akteur.
Schauen wir auf die Lebensleistungen von Theodor Körner: Der 1791 in Dresden geborene Körner kam aus einer Juristenfamilie, die mit Schiller, Goethe, Kleist, Graf Geßler, Christoph Friedrich Nicolai, Wilhelm und Alexander von Humboldt, Novalis sowie August Wilhelm und Friedrich Schlegel in Verbindung stand. Fichte, Schleiermacher, Niebuhr und Jahn zählten zu seinen Professoren und Weggefährten. Es waren ausgerechnet jene, die Deutschlands inzwischen abhandengekommenen Ruf begründeten, ein „Volk der Dichter und Denker" zu sein: Sie alle zeichnete überdurchschnittliche Begabung, musisches Talent, universelle Bildung, wissenschaftliche Neugierde und leidenschaftlicher Patriotismus aus.
Theodor Körner zählte schließlich auch noch zu den Protagonisten studentischer Freiheiten.
• Seine Generation legte den Grundstein für das spätere studentische Korporationswesen (bei Wikipedia findet sich eine Abbildung des Titelblattes seiner Schrift „Beschreibung des Systems der Hiebe beim Fechten").
• Seine Generation zählte zu den führenden Männern der Frankfurter Paulskirche 1848 — die Grundrechte, Gewaltenteilung und nationale Einigung forderten.
• Und noch mancher seiner Generation erlebte hochbetagt die Gründung des Deutschen Reiches 1871. Jenes Ereignis, von dem Körner träumte, für das er kämpfte und für das er starb.
Körner hatte sich schon als junger Student mit einer Reihe von Gedichten und Theaterstücken einen Namen gemacht. Die Verbindungen seiner Familie zu den Dichterfürsten und Denkern seiner Zeit mögen da hilfreich gewesen sein. So erlangte er im Alter von 21 Jahren eine Anstellung als „k.u.k. Hoftheaterdichter" am Burgtheater in Wien. — Der geneigte Leser mag es gerne als Kritik an unserem Bildungswesen auffassen, wenn ich darauf hinweise, dass die kreativste Lebensphase eines Menschen zwischen 20 und 30 Jahren ist — und wenn gleichzeitig zu beobachten ist, dass in dieser Lebensphase heutzutage Deutschlands akademische Zukunft noch in den Hörsälen der Universitäten sitzt und die Eitelkeiten seiner Professoren bedient, um die nächste Prüfung möglichst gut zu bestehen.
Noch kein Jahr lang an der Wiener Hofburg beschäftigt, kündigte Körner diese bedeutende Arbeitsstätte im Jahre 1813 und folgte dem Aufruf Preußens, im Kampf gegen Napoleon zu den Waffen zu greifen. Er trat dem Lützowschen Freikorps bei, der Keimzelle der späteren Urburschenschaft. Hier verbanden sich Freiheitsliebe mit jugendlichem Sturm und Drang.
Keiner — außer vielleicht Ernst Moritz Arndt — vermochte es, die Gefühle dieser Generation junger Menschen besser in Verse zu bringen als Theodor Körner.
Noch einmal mit anderen Worten: Statt sich im Erfolg zu baden, mit nur 21 Jahren zum Hofdramaturgen an einer der berühmtesten Bühnen auf dem europäischen Festland aufgestiegen zu sein, schwang sich Körner an die Spitze jener jungen Menschen, die, beseelt von patriotischen Idealen, sich von der Napoleonischen Fremdherrschaft befreien wollten.
Verwundet und — kaum genesen — erneut an der Front, starb Theodor Körner 1813 südlich von Schwerin im Kampf. Körner, der Shootingstar am deutschsprachigen Dichterhimmel, war für seine Generation legendär — und im Kaiserreich nicht zuletzt auch von den studentischen Korporationen zur Legende stilisiert worden. Doch nach zwei verlorenen Weltkriegen war auch sein Ansehen in Deutschland verblichen. In der DDR wurde Körner — wie zuvor im Kaiserreich — instrumentalisiert und brachte es immerhin zum Romanhelden, auch wenn er es zu einem deutschen „Robin Hood" nicht mehr geschafft hat. Denn: Das deutsche Vaterland war geteilt. Das, wofür er sein Leben hingab, gab es nicht mehr.
In der Bundesrepublik Deutschland erinnerte 1954 Bundestagspräsident Hermann Ehlers in einem Zeitungsartikel an ihn. Ehlers machte in Hinblick auf Körners Texte unmissverständlich deutlich:
„Es ist heute nicht mehr möglich, die Fragen von Volk und Vaterland mit den Begriffen der wilhelminischen Zeit zu erörtern. Ebenso wenig ist die Zeit der Romantik und ihrer Reichssehnsucht gedanklich heute noch in unsere Lage zu übertragen." Ehlers — schon 1954 (sic!) weiter: Viele junge Menschen „haben kaum mehr die Fähigkeit, die Ereignisse und Gedanken der Vergangenheit aus deren Zeit und ihren Gegebenheiten zu beurteilen". Das heißt nicht, dass damit alles heute rückblickend bejaht werden könnte; es heißt aber ebenso wenig, dass damit rückblickend alles verneint werden müsste. Theodor Körner — so Ehlers wörtlich weiter — kann „eben nur als Exponent seiner Zeit gewürdigt werden. Und für Bismarck und Wilhelm II gilt das gleiche". Das war 1954. Danach ist Theodor Körner von einem derartig ranghohen Politiker nicht mehr erwähnt, geschweige denn zitiert worden.
Der Beitrag von Bundestagspräsident Ehlers stand im Zentrum von Auseinandersetzungen über den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Ehlers wollte, dass das im Grundgesetz verankerte Wiedervereinigungsgebot nicht mit jenem Vokabular der Kaiserzeit oder gar Romantik eingefordert wird, mit dem dann bekanntlich in der NS-Zeit antisemitische Hetze, Kriegspropaganda oder eine „Volk ohne Raum"- sowie „Blut und Boden"-Ideologie betrieben und propagiert worden war.
Nun ist es das tiefe Bedürfnis auch eines Staatsgebildes beziehungsweise Nationalstaates, eine gemeinsame positive Geschichte mit Gedenktagen, Gedenkfeiern, Denkmälern zu entwickeln. Auch Sprachcodes gehören dazu. Tatsächlich handelt es sich hier zumeist um ein „erträumtes Konstrukt", als dass es mit der Wirklichkeit zu tun hätte. Derlei Konstrukte gehören nicht selten in den Bereich der Legenden. Das war 1871 so und das war 1919 so. Die Legenden und Gründungsmythen werden als vermeintliche Tradition weitervermittelt und sind eigentlich nur ein Produkt aus selektiv Wahrgenommenem, aus Nostalgie und Verklärung sowie aus Emotionalisierung (nach Beck-Gernsheim).
Nach dem Zweiten Weltkrieg war für eine derartige Traditionsbildung in Deutschland nur wenig Spielraum. Die Instrumentalisierung der Geschichte zur Legitimation von Kriegspolitik und Rassenideologie führte die Anfälligkeit von Geschichte „als Bildungsmacht" oder gar „als Waffe" deutlich vor Augen. Angesichts des von Nazis planmäßig durchgeführten millionenfachen Judenmordes in ganz Europa war die Besinnung auf eine positive deutsche Vergangenheit schwierig geworden. Bedenken wir allein, wie langwierig sich die Diskussionen um eine Nationalhymne gestalteten.
In den ersten Jahren der Bundesrepublik Deutschland betrieb man Vergangenheitsbewältigung. Die Vergangenheit wurde aufgearbeitet. Heute hat man sich längst von den Begriffen Aufarbeitung und Bewältigung getrennt. Denn Vergangenheitsbewältigung impliziert einen einmaligen Akt und will einen Bruch mit der Vergangenheit (nach Wolfrum) herbeiführen. Bewältigen impliziert, einen Schlussstrich ziehen zu wollen. Tatsächlich gehörten in den 1950er-Jahren zum Projekt der Vergangenheitsbewältigung die Beseitigung der Organisationen des NS-Regimes, Demokratisierung, Bestrafung von Tätern, Opferentschädigung und schließlich eine moralische und intellektuelle Aufarbeitung der Vergangenheit. In der Erinnerungskultur in Deutschland hat Theodor Körner scheinbar keinen Platz mehr. Vielleicht hätte er nicht so sehr den Zeitgeist bedienen dürfen? Er war ein Popstar, der recht schnelle Erfolge mit seinen damals zeitgemäßen — um nicht zu sagen — sehr gefälligen Gedichten und Theaterstücken zu verzeichnen hatte. Er war eben kein Goethe, dessen Texte, Botschaften und Moralität zeitlose Gültigkeit beanspruchen können. Um ein Profil wie Goethe und Schiller zu entwickeln, hat Theodor Körner nicht lange genug gelebt; er besaß gar nicht die Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln und somit dauerhaft in der kollektiven Erinnerung fortzuleben. Wir konnten aber immerhin gerade am Beispiel Körners sehr schön sehen, wie — bis in die Weimarer Republik hinein — ein Mensch auch noch lange nach seinem Tod zu einer Identifikations- und auch Integrationsfigur werden konnte. Geschichte und historisches Erinnern können auch „humanisierend" und „erzieherisch" wirken. Deswegen gibt es in den Schulen auch Geschichtsunterricht. Um wirklich „humanisierend" zu wirken, ist es erforderlich, die positiven und negativen Aspekte aus der Geschichte in der Erinnerung wachzuhalten.
Auf den „humanisierenden" Aspekt von positiv in Erinnerung gebliebenen Ereignissen der Vergangenheit hat bemerkenswerterweise Eugenio Pacelli, der spätere Papst Pius XII., schon 1928 in einer Ansprache vor Mitgliedern seiner Berliner Studentenkorporation aufmerksam gemacht. Mit Blick auf die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche in der Weimarer Republik beklagte er eine Entwurzelung der Menschen. Und schloss daran die Feststellung:
„Ich sehe in den vielen Gedenkfeiern unserer Tage, in dieser ständigen Rückschau, die Angst des Menschen von heute vor dieser Entwurzelung, sein instinktives Bestreben, das wirklich Wahre und Wertvolle der Vergangenheit in die neue Zeit hinüberzuretten." Beziehen wir diese Bemerkung des späteren Papstes auf unser Gedenken an Körner heute, dann fragt man sich: Was wollen wir von Theodor Körner für uns in die heutige Zeit herüberretten? Was hat uns Theodor Körner heute noch zu sagen, 210 Jahre nach seinem Tode?
Streichen wir seine zuweilen kitschigen und patriotischen Gedichte auf ihren Wesensgehalt zusammen und schauen wir uns sein kurzes Leben einmal an. Dann bleiben übrig: sein Heldenmut, seine Begeisterungsfähigkeit und Leidenschaft, sein Ehrgeiz, sich an die Spitze einer politischen Bewegung zu stellen, sein Engagement, sein Pflichtgefühl und sein fester Glaube, für eine gute Sache zu kämpfen. Das Gegenteil davon sind Verantwortungslosigkeit, Egozentrik, Hedonismus, mangelnde soziale und emotionale Kompetenzen, Selbstbedienungsmentalität, Sozialneid, Spaßgesellschaft und Politikverdrossenheit.