Walter Eucken, Franz Böhm und Hermann Heinrich Gossen – drei Männer, die zur Geschichte der deutschen Volkswirtschaftslehre entscheidende Beiträge geliefert haben. Und die in Corps korporiert waren. Deutschland verdankt ihnen viel.
Dr. Philip Plickert
CORPS - Das Magazin Ausgabe 1/2025
Die ehemals stolze deutsche Volkswirtschaft ist schwer krank. Als „Sick Man of Europe“ gilt Deutschland in internationalen Medien. Schon das zweite Jahr in Folge steckt die Wirtschaft in der Rezession, nicht ganz ausgeschlossen ist 2025 ein drittes Rezessionsjahr. Unter den großen G7-Industrieländern trägt Berlin die rote Laterne. Seit Jahren ist das Land Schlusslicht beim Wachstum. Dies ist mehr als eine konjunkturelle Schwächephase. Es gibt strukturelle Gründe, die unseren Wohlstand bedrohen. Eine schlechte Wirtschaftspolitik hat die Lage verschlimmert.
Vor drei Jahren verstieg sich der damals neu gewählte Bundeskanzler Olaf Scholz zu der Behauptung, dass „Wachstumsraten wie zur Zeit des Wirtschaftswunders möglich“ seien. Viele Volkswirte schüttelten den Kopf über diese groteske Fehleinschätzung. Der damalige grüne Wirtschaftsminister und Vizekanzler fabulierte über ein „grünes Wirtschaftswunder“, nun steht er blamiert da. Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit sinkt. Industrien wandern ab, abgeschreckt von hohen Energiekosten, hohen Steuern, lähmender Bürokratie. Statt Wirtschaftswunder erleben wir Schrumpfkurs, Rekordinsolvenzen, steigende Arbeitslosigkeit.
Volkswirtschaftliche Grundkenntnisse waren in der gescheiterten Ampelregierung nicht gerade stark vertreten. Zu wenige wissen offenbar noch, was die Grundlagen waren, die das Wirtschaftswunder in den 1950er-Jahren ermöglichten, welche Politik hinter dem Wiederaufstieg der Nation nach dem verheerenden Krieg lag.
Untrennbar verbunden mit dem Wirtschaftswunder, dem Ordoliberalismus und der Zeit von Wirtschaftsminister Ludwig Erhard ist der Name des Freiburger Wirtschaftsprofessors Walter Eucken (1891–1950). Eucken war Kopf der sogenannten Freiburger Schule und immens einflussreich. Gemeinsam mit anderen Freiburger Forschern wie dem Juristen und Ökonomen Franz Böhm (1895–1977) hat er die geistigen Grundlagen jener ordoliberalen Wirtschaftspolitik gelegt, die Ludwig Erhard
zum „Vater des Wirtschaftswunders“ machte.
Eucken war nicht nur einer der wichtigsten Berater des ersten Wirtschaftsministers der Bundesrepublik, sondern er war auch in der praktischen Wirtschaftspolitik der wohl einflussreichste deutsche Ökonom des 20. Jahrhunderts. Weit über seinen Tod hinaus hat er die Debatten geprägt. Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft mit einer konsequenten Wettbewerbspolitik ist zum Großteil aus seinen Arbeiten entstanden.
Was indes nur wenige wissen: Sowohl Eucken als auch Böhm waren Kösener Corpsstudenten. Eucken hatte sich in seiner Kieler Studienzeit 1910 dem Corps Saxonia angeschlossen; Böhm wurde in Freiburg, wo er ab 1919 studierte, im Corps Rhenania aktiv. Als Sohn des Jenaer Philosophen und Literaturnobelpreisträgers Rudolph Eucken entstammte Eucken einem hochgebildeten Akademikerhaus. Sein Bild kann man übrigens bis heute in der Aula der Universität Jena bewundern. Dort hängt das großformatige Wandgemälde Auszug der Jenenser Studenten von Ferdinand Hodler, der den jungen Eucken damals als Modell nahm.
In der Weimarer Zeit stand Eucken als junger nationalkonservativer Professor der Republik zunächst skeptisch gegenüber, er wandelte sich aber zum überzeugten NS-Gegner. 1933 war er in Freiburg Gegenspieler des neuen Universitätsrektors Martin Heidegger, der die Universität nach dem NS-Führerprinzip umgestalten wollte. 1934 gab Eucken sein Sachsenband zurück, als er auf dem Kieler Corpshaus eine Nähe zur NS-Ideologie wahrnahm. Im November 1938 entsetzte ihn das antijüdische Pogrom („Reichskristallnacht“). Eucken engagierte sich mit anderen Professoren und Mitgliedern der Bekennenden Kirche in Widerstandskreisen, dem sogenannten Freiburger Konzil. Man traf sich heimlich, verfasste im Auftrag Dietrich Bonhoeffers eine Denkschrift für eine freiheitliche Nachkriegsordnung und stand in Kontakt mit Carl Friedrich Goerdeler. Sein Freund Böhm, mit der Tochter der jüdischen Autorin Ricarda Huch verheiratet, hatte wegen seiner Kritik an der Judenverfolgung seine Lehrbefugnis verloren. Nach dem 20. Juli 1944 wurden mehrere Freiburger Professorenkollegen verhaftet und gefoltert, Böhm entkam nur durch eine Namensverwechslung dem Zugriff der Gestapo.
Ohne die mutigen Professoren Eucken, Böhm und ihre Freiburger Schule hätte die (west-)deutsche Wirtschaftspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg einen anderen, weniger marktwirtschaftlichen Verlauf genommen. Ohne ihre Vorarbeit und Beratung hätte Erhard 1948 wohl nicht den Sprung zur Währungsreform und Preisfreigabe, zur Marktwirtschaft gewagt. Eucken und seine Gruppe zählten im Beirat des Wirtschaftsministeriums zu den wichtigsten akademischen Stichwortgebern und Vordenkern.
In den 1930er-Jahren hatte Eucken – in Abgrenzung zur sozialistischen Planwirtschaft („Zentralverwaltungswirtschaft“) und zur NS-Kommandowirtschaftspolitik – das Konzept einer liberalen Ordnungspolitik entwickelt: Der Staat sollte nicht willkürlich in die Wirtschaft intervenieren, Preise oder Mengen festsetzen. Aber er sollte den Rahmen für eine wettbewerbliche Marktwirtschaft setzen. „Ordnungspolitik“ nannten sie das, die das Wohl aller Konsumenten im Auge hat, im Unterschied zum schädlichen Interventionismus, der zugunsten von Interessen- und Lobbygruppen Subventionen und Privilegien verteilt.
Eucken forderte explizit einen „starken Staat“, der über den Interessengruppen stehe und ihre Sonderwünsche abwehren könne. Eucken hatte den Zusammenbruch der Wirtschaft in der Weltwirtschaftskrise erlebt. Er lehnte auch das ältere liberale Laissez-faire ab, das seiner Meinung nach versagt hatte. Seine Sorge war, dass eine sich selbst überlassene Marktwirtschaft selbstzerstörerische Tendenzen zur Kartell- und Monopolbildung habe. Dagegen müsse ein Kartellamt vorgehen.
Die Freiburger um Eucken und Böhm sorgten sich vor den „Vermachtungstendenzen“ – in Wirtschaft und Politik. Eucken sprach von der Interdependenz der Ordnungen: Eine freie Gesellschaft könne nur mit einer wettbewerblichen Marktwirtschaft
existieren, eine Zentralverwaltungswirtschaft sei die Wirtschaftspolitik einer unfreien Gesellschaft. Franz Böhm entwickelte als Jurist wichtige Grundlagen des Konzepts der Privatrechtsgesellschaft und betonte die herausragende Rolle des Vertrags- und Haftungsrechts. Nach dem Krieg war er kurzzeitig hessischer Kultusminister, bevor er sich mit den Alliierten überwarf und eine Professur an der Goethe-Universität Frankfurt übernahm. Als CDU-Bundestagsabgeordneter ab 1953 gehörte Böhm zu den treibenden Kräften für das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) von 1957, das oft als „Grundgesetz der Sozialen Marktwirtschaft“ bezeichnet worden ist. Gegen den erbitterten Widerstand der Großindustrie führten Erhard und Böhm damit ein Kartellamt ein, das eine konsequente Wettbewerbsordnungspolitik unterstützen sollte.
Die Freiburger Schule und andere ordoliberal-konservative Ökonomen wie Wilhelm Röpke warnten schon früh vor einem großen Umverteilungsstaat, einem entmündigenden Sozialstaat, der die Eigenverantwortung untergräbt. In den 1950er- Jahren war dieser noch vergleichsweise klein, heute ist er kaum noch zu bezahlen. Vermutlich würden Eucken und seine Freunde heute zu den schärfsten Kritikern des hilflosen Interventionismus der Ampelkoalition zählen; die planwirtschaftliche
Energiewendepolitik, der anmaßende Dirigismus, der die Autoindustrie zerstört, und der ausufernde Bürgergeld-Versorgungsstaat, der den Bürgern steigende Steuerlasten aufbürdet, würden sie mit Grausen erfüllen. Von einem „Wirtschaftswunder“ sind wir heute wahrlich weit entfernt.
Auf der Suche nach berühmten Ökonomen, die Mitglieder in Studentenverbindungen waren, stößt man noch auf einen dritten Corpsstudenten: Hermann Heinrich Gossen (1810–1858). Als Jurastudent in Bonn wurde Gossen Mitglied des Corps Rhenania. Er hat die Wirtschaftswissenschaft bahnbrechend verändert, auch wenn er zu Lebzeiten keinerlei Ruhm erntete. Auf ihn geht das – erst sehr viel später in seiner Bedeutung erkannte – Gesetz des abnehmenden Grenznutzens zurück.
Der aus dem Rheinland stammende Gossen arbeitete zunächst als preußischer Beamter, dann wurde er Teilhaber einer Versicherungsgesellschaft. 1854 publizierte er ein Buch mit dem Titel Entwickelung der Gesetze des menschlichen Verkehrs, und der daraus fließenden Regeln für menschliches Handeln – sein einziges größeres Werk. Im Vorwort formulierte er seinen Anspruch, ein Kopernikus der Sozialwissenschaften zu werden, doch blieb das Buch weitgehend unbeachtet; es verkaufte sich so schlecht, dass er die Restexemplare schließlich vom Verleger zurückkaufte und als Heizmaterial nutzte. Gossen blieb als Wissenschaftler erfolglos, offenbar hatte er einen schwierigen Charakter. Bald darauf nahm er sich das Leben. Erst 20 Jahre später wurde das Buch als ein bahnbrechendes wirtschaftswissenschaftliches Werk erkannt.
Gossen hatte eine äußerst wichtige Erkenntnis formuliert und mathematisch dargelegt. Im Gegensatz zur damals herrschenden Lehre erklärte er, dass der Wert eines Guts nicht objektiv, sondern subjektiv sei und sich verändere. Mit jeder zusätzlich konsumierten Einheit sinkt der Grenznutzen (Beispiel: Das erste kühle Bier verschafft mehr Nutzen und Genuss als das zweite, dritte, vierte, der Grenznutzen nimmt ab – auch wenn es manche kaum glauben wollen). Bei Sättigung
fällt der Grenznutzen sogar auf null. Entsprechend sinkt auch die Zahlungsbereitschaft. Gossen nahm damit die Grenznutzen-Theorie vorweg, die später mit Namen wie Carl Menger, W. S. Jevons und Léon Walras verbunden wurde. Heute gilt Gossen als einer der originellsten volkswirtschaftlichen Autoren, der sehr moderne Ansichten vorweggenommen hat.
Drei korporierte Ökonomen, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Sie alle haben auf ihre Weise die Wissenschaft geprägt und im Falle Euckens und Böhms auch die Politik bewegt. Sie zählen zu den großen Männern und Denkern Deutschlands.
Dr. Philip Plickert, Münchner Burschenschaft Arminia-Rhenania, hat in München, London und Tübingen studiert. Er ist seit 2007 Wirtschaftsredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Auszeichnung mit dem Ludwig-Erhard-Förderpreis für Wirtschaftspublizistik. Seit 2019 London- Korrespondent der FAZ.