Hans Thomas Wolf Rhenaniae Würzburg, Franconiae München
CORPS - Das Magazin Ausgabe 3/2021
Alles Leben ist endlich, sterben muss ein jeder irgendwann einmal - das ist eine ebenso banale wie bittere Wahrheit. Dennoch oder gerade darum ist der Traum vom ewigen Leben, der Wunsch, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, wohl so alt wie die Menschheit. Natürlich hat dieser Traum auch Schriftsteller und Literaten aller Zeiten und Epochen beschäftigt. Meist ist der Umgang mit dem Thema von abgrundtiefem Ernst getragen und buchstäblich todtraurig, doch manche Autoren versuchen auch, dem Ende des irdischen Daseins humorvolle, ja komische Seiten abzugewinnen. Zu den gelungensten Versuchen - zumindest im deutschen Sprachraum - zählt zweifellos das dialektale Dramolett vom "Brandner Kasper und dem ewigen Leben" des Münchner Isaren Franz von Kobell. In dieser 1871 in den "Fliegenden Blättern" erstmals erschienenen Geschichte erhält der zum Zeitpunkt des Geschehens 74-jährige Schlosser, Büchsenmacher und Jäger Kaspar Brandner aus dem Tegernseer Tal eines Abends unwillkommenen Besuch: Der Boanlkramer 1) - ein bairisches Codewort für den Tod, andernorts auch Sensenmann oder Freund Hein genannt - will den Kaspar abholen, dessen Zeit er für gekommen hält. Das sieht der Brandner Kaspar freilich anders und findet reichlich Gründe, warum er längst noch nicht mitkommen könne; allerdings sei er bereit, als 90-Jähriger einer nochmaligen Aufforderung Folge zu leisten. Um sich dem Boanlkramer gewogen zu machen, kredenzt der Kaspar in bester bayerischer Gastfreundschaft erst einmal ein Fläschchen Kirschgeist, dem der von der langen Fahrt durchgefrorene Tod gerne zuspricht. Freilich verträgt er geistige Getränke schlecht und so ist Freund Hein nach etlichen Gläsern ziemlich hinüber. Um das "Abtrittsdatum 90" fix zu machen, schlägt Kaspar nun eine Partie Karten vor - gewinnt er, darf er noch weitere 15 Jahre am Tegernsee bleiben, gewinnt der Boanlkramer, will der Kaspar seinem Gast sogleich folgen. Der Boanlkramer lässt sich auf das Spiel ein - und hat das bayerische Schlitzohr grob unterschätzt. Der Brandner greift nämlich zu einem abgefeimten Taschenspielertrick, gewinnt die Partie und weitere Lebensjahre, und am Ende zieht der Tod trunken, aber ohne den Kaspar von dannen. Fünf Jahre später bemerkt jedoch Petrus durch den Bericht einer Sennerin aus dem Tegernseer Tal, die von einem wütenden Stier in den Himmel befördert worden war, des Brandners Trickserei und schickt nun den Tod erneut zum Kaspar. Der Boanlkramer fühlt sich zwar an sein dem Kaspar gegebenes Versprechen gebunden, kann diesen aber zu einer "Spazierfahrt" ins Paradies überreden, damit der sich dort erst einmal "unverbindlich" umschauen kann. Und dem inzwischen auch nicht mehr so rüstigen Schlosser gefällt es dann so gut im Himmel, dass er schließlich aus freien Stücken dortbleibt.
Diese Humoreske war schon zum Zeitpunkt ihres Erscheinens ein fulminanter Erfolg. Bis sie den Weg auf die Theaterbühne fand, verging freilich noch eine Weile: 1934 entstand eine erste, 1975 eine zweite Bühnenfassung mit erweiterter Handlung. Die entwickelte sich zum Dauerbrenner nicht nur am Bayerischen Staatsschauspiel, wo sie mehr als 1000 Aufführungen erlebte. Bis heute steht der Brandner Kaspar auf dem Spielplan zahlreicher Bühnen auch fernab der weiß-blauen Bretter und wurde sogar mehrfach verfilmt 2).
Die Idee zu seiner erfolgreichen Populärposse verdankte Franz von Kobell wohl seinem Freund und Isaren-Corpsbruder, dem als "Kasperlgrafen" berühmt gewordenen Obersthofkämmerer Franz von Pocci. Der war nicht nur Autor zahlreicher Geschichten um den Kasperl Larifari, sondern vor allem Zeichner und Grafiker. Als Pocci nun eines Tages Kobell Entwürfe zur Illustration eines Gedichtes von Ludwig Bechstein vorlegte, hatte Kobell die Inspiration zum Brandner Kaspar. Im von Pocci illustrierten Gedicht geht es nämlich um einen Ritter, der es wagt, mit dem Tod um sein Leben zu würfeln - und dabei gewinnt. Kobell variierte den Stoff, verlegte ihn ins von ihm geliebte Tegernseer Tal und machte aus dem Ritter einen Bauern und Jäger. Damit gelang ihm eine ungemeine Popularisierung des Sujets, und dem Erfolg beim breiten Publikum stand nichts mehr im Wege.
Franz von Kobell ist aber nicht nur als Verfasser der Geschichte vom Brandner Kaspar hervorgetreten, vielmehr war er eine der vielseitigsten Gestalten im Geistesleben des Königreichs Bayern im 19. Jahrhundert. Geboren wurde er am 19.7.1803 in München als Sohn des bayerischen Verwaltungsbeamten und späteren Königlichen Geheimrates Franz Kobell, der ursprünglich aus der - mit dem Königreich Bayern jahrhundertelang eng verbundenen - Pfalz stammte und 1809 in den persönlichen, 1825 den erblichen Adelsstand erhoben wurde. Kobell junior studierte zunächst auf Wunsch des Vaters Jura an der Universität Landshut, wechselte aber schon bald zur Mineralogie, nachdem er sich bereits als Schüler für die Naturwissenschaften begeistert hatte. 1823 wurde er dann auch beim zwei Jahre zuvor gegründeten Corps Isaria aktiv.
Anders als manch anderer Corpsstudent - auch schon der damaligen Zeit - war Kobell in seinen wissenschaftlichen Bemühungen zielstrebig und zügig. Bereits 1824 wurde er promoviert, 1826 dann zum außerordentlichen, 1834 schließlich zum ordentlichen Professor der Mineralogie an der Universität München berufen. Als Wissenschaftler machte er rasch von sich reden und erfuhr breite Anerkennung: 1827 wurde er - wiederum - zunächst außerordentliches, 1842 dann ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Er war Mitglied der Leopoldina (ab 1957) sowie zahlreicher anderer Akademien, darunter etwa korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Göttingen und der Russischen Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg. Kobell entdeckte neue Mineralien und Gesteinsarten, veröffentlichte zahlreiche Fachbücher und -artikel. Manche seiner Werke, so die "Tafeln zur Bestimmung der Mineralien mittels chemischer Versuche" erfuhren zahlreiche Auflagen und wurden in viele Sprachen übersetzt. Gewissermaßen nebenbei entwickelte Kobell zusammen mit Carl August von Steinheil - unabhängig vom bekanntesten Pionier der Lichtbildnerei, dem Franzosen Dasguerre - ein fotografisches Verfahren. Kobell und Steinheil gelang sogar die vermutlich erste Fotografie Deutschlands, ein Bild der Münchner Frauenkirche.
Erfolgreich war Kobell auch in seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Er verfasste zahlreiche Gedichte im bairischen und - als Spross eines aus der Pfalz stammenden Geschlechts - auch im pfälzischen Dialekt, so eine 1863 erschienene "P'älzische G'schichte - in der Mundart erzählt". Und Corpsstudenten aller Generationen sind spätestens seit der Fuchsenstunde mit einem Werk Franz von Kobells vertraut, auch wenn ihnen das gar nicht bewusst sein sollte: Der Isare gilt als Verfasser eines Evergreens corpsstudentischer Sangesfreude, des Liedes "Burschen heraus". Aber nicht nur dem studentischen Liedgut gehörte seine Liebe und Aufmerksamkeit, auch dem Volkslied widmete sich Kobell, der auch trefflich die Zither schlug, mit Hingabe. So gab er 1860 auf Veranlassung des Königs Maximilian II. Joseph von Bayern eine umfangreiche Sammlung solcher Gstanzl und Weisen aus Oberbayern heraus und erwarb sich damit bleibende Verdienste um die Pflege bayerischen Brauchtums.
Von bleibendem Wert ist nicht zuletzt auch das Buch "Wildanger", in dem Kobell - selbst ein passionierter Waidmann und unermüdlicher Pirschgänger im Alpen- und Voralpenland - "Skizzen aus dem Gebiete der Jagd und ihrer Geschichte mit besonderer Rücksicht auf Bayern" zu Papier bringt. Er schildert darin seine langjährigen Beobachtungen des heimischen Wildes und dessen Lebensräumen, stellt unterschiedliche, zur damaligen Zeit gebräuchliche Jagdarten dar, bringt zahlreiche, zum Teil selbst verfasste Jagdgedichte und -lieder und lässt sich sogar zur Gliederung der bayerischen Reviere und Forstbezirke inklusive ihres Personals aus. Kurz: Der "Wildanger" ist eine der umfassendsten Darstellungen des Waidwerkes und eine unerschöpfliche Quelle für jeden an der Jagd und ihrer Geschichte interessierten Leser. Wer sich ein Bild vom "Jager" Franz von Kobell machen möchte, kann das bei Carl Spitzweg tun, der seinen Freund Kobell mehrfach mit Büchse, Lederhose, Rucksack und im Lodengwand dargestellt hat.
1882 schaute der Boanlkramer dann schließlich auch bei Franz von Kobell vorbei. Der konnte sich zwar keine zusätzliche Lebenszeit ertricksen, doch mit der "G'schicht vom Brandner Kaspar und dem ewig' Leben" hat er sich zumindest bleibenden literarischen Nachruhm gesichert.
1) Über die korrekte Schreibweise des Wortes "Boanlkramer" mag man streiten. Manche Kenner der bairischen Mundart favorisieren "Boandlkramer" - also mit einem eingeschlossenen "d", das die Aussprache erleichtert. Wohl darum fand die d-Variante auch in Filmfassungen und auf der Bühne Verwendung. Kobell selbst scheint jedoch kein "d" verwendet zu haben, zumindest taucht dieser Einschub in der Urfassung in den "Fliegenden Blättern" nicht auf. Daher will sich auch der Autor dieser Zeilen an die ursprüngliche Schreibweise halten.
2) Der Autor dieser Zeilen empfiehlt die in den 1970er-Jahren gedrehte Fernsehfassung mit dem legendären Volksschauspieler Toni Berger in der Rolle des Boanlkramers.