Hans Thomas Wolf Rhenaniae Würzburg, Franconiae München
Besonders bedankt sich der Verfasser bei Harald Seewann, Akademische Burschenschaft Marco-Germania Graz, für die Unterstützung bei der Recherche zu jüdischen schlagenden Korporationen.
CORPS - Das Magazin Ausgabe 4/2022
Patriot, Monarchist, Zionist, Kommunist, Freidenker: Der österreichisch-ungarisch-englische Schriftsteller Arthur Koestler hat sich in seinem wechselvollen Leben für viele Ideen engagiert - und ihnen auch wieder abgeschworen. Einer blieb er allerdings trotz aller Brüche treu: Als Student in Wien war er Mitglied der jüdischen schlagenden Verbindung Unitas geworden und blieb ihren Idealen zeitlebens verbunden.
„Es ist gewiss ein Paradoxon, dass diese erzkonservativen, anachronistischen, rauf- und sauflustigen Burschenschaften psychologisch gesünder waren als jede andere geschlossene Gemeinschaft oder Clique, der ich seither begegnet bin”, schreibt Arthur Koestler in seinen Lebenserinnerungen. Und weiter: „Blicke ich heute als ein Veteran zahlloser Fehden und Fraktionskämpfe in den Ghettos der Zeitungsredaktionen, der kommunistischen Zellen und Schriftstellerkongresse auf jene Zeit zurück, scheint es fast unglaublich, dass ich, ein höchst neurotischer junger Mensch, drei Jahre im täglichen engsten Kontakt mit einer Gruppe von jungen Intellektuellen — noch dazu jüdischen — verbracht habe, ohne einen einzigen Streit miterlebt zu haben oder gar in einen solchen verwickelt worden zu sein." Und schließlich: „In den meisten anderen Burschenschaften, ob alldeutsch, liberal oder zionistisch, herrschte die gleiche Harmonie. Dagegen gab es in den sozialistischen Studentenvereinigungen ständig Krach und Streit, obwohl sie uns als „Bandaffen", Barbaren und Erzreaktionäre verschrien."
Dieses Bekenntnis zum Waffenstudententum — Burschenschaften ist dabei als Oberbegriff für Studentenverbindungen gemeint, auch andere zeitgenössische Autoren vollziehen die heute üblichen terminologischen Unterscheidungen nicht — schrieb Koestler in seiner 1970 veröffentlichten Autobiografie „Frühe Empörung". Zu dieser Zeit war der österreichisch-ungarisch-englische Schriftsteller 65 Jahre alt und konnte auf eine schier unglaubliche Fülle von Ereignissen, Erlebnissen und Erfahrungen zurückblicken. Koestler war Zionist, Kommunist und Freidenker gewesen, hatte sich mit Technik, Philosophie, Politik und Okkultismus befasst, als Publizist, Schriftsteller und Psychologe gewirkt und in Monarchien, Demokratien und Diktaturen gelebt. Er kannte Gefängnisse ebenso wie elegante Salons, hatte das Grauen der Schlachtfelder wie den Terror menschenverachtender Ideologen erlebt, war Bohemien und Großbürger, hatte sich für tagespolitische Ziele engagiert und Weltliteratur geschaffen. Und bei all diesen Brüchen und Wechseln, allem Scheitern und Neu-Beginnen blieb er doch dem waffenstudentischen Ideal seiner Jugend verbunden, das er als Aktiver der jüdischen schlagenden Verbindung Unitas in Wien er- und gelebt hatte.
Geboren ist Arthur Koestler am 5. September 1905, wie er schreibt „jenem Moment, als die Sonne über dem Zeitalter der Vernunft zu sinken begann". Seine Wiege stand in Budapest, wohin schon der Großvater väterlicherseits, Leopold Koestler oder Kestler, aus der ungarischen Provinz mit Frau und vier Kindern gezogen war. Die Herkunft des Namens Koestler liegt im Dunkeln: Großvater Leopold nannte sich so, nachdem er während des Krimkrieges aus Russland nach Ungarn gekommen war; seinen wahren Familiennamen hat er nie verraten. Arthurs Mutter entstammte einer alten jüdischen Familie aus Prag, die den berühmten Rabbi Löw zu ihren Vorfahren zählte. Aus kleinen Verhältnissen hatte es Vater Koestler durch Fleiß und Erfindungsgabe zu beachtlichem Wohlstand gebracht, sodass Arthur in gehoben-bürgerlicher Umgebung aufwuchs.
In späteren Jahren wusste der Schriftsteller selbst nicht mehr zu sagen, ob er seine ersten Worte auf Ungarisch oder Deutsch gesprochen hatte, beide Idiome beherrschte er jedenfalls vollkommen. Später kamen noch Französisch und Englisch — der Sprache, in der er seine größten literarischen Erfolge verfasste — sowie Hebräisch hinzu. Überhaupt erwies sich der Knabe früh als vielfach begabt und interessiert. So entwickelte er ein ausgeprägtes Faible für Naturwissenschaften — insgeheim träumte er davon, die tiefsten Geheimnisse des Universums zu entschlüsseln — und Technik, war ein begeisterter Tüftler und Schrauber. Gleichzeitig faszinierte ihn die Welt der Antike, er verschlang die Sagen Griechenlands und Roms, ebenso die Werke der klassischen europäischen Literatur, auch Theater und Musik waren selbstverständlicher Bestandteil des koestlerschen Kindheits-Kosmos. Der Politik, die in späteren Jahren sein Leben so maßgeblich bestimmen sollte, stand der Heranwachsende naturgemäß eher fern, obgleich er rückblickend sowohl sich — als 14-Jähriger — als auch seinen Vater als „glühende ungarische Patrioten" beschreibt. Noch ein weiteres Ereignis bringt das Herz des Jungen zum Glühen: Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem Zusammenbruch des Habsburgerreichs kam es in Ungarn nach einem viermonatigen republikanischen Intermezzo zur Revolte des Kommunistenführers Bela Kun. Diese »Budapester Kommune" war zwar ebenfalls nach nur 100 Tagen bereits wieder Geschichte, doch eine Arbeiterdemonstration, bei der Chopins Trauermarsch erklang, machte beim jungen Arthur gewaltigen Eindruck. Diese Musik, so schildert er noch Jahrzehnte später klarsichtig, habe „lange ehe ich die Bedeutung des Wortes Kommunismus kannte, einen romantischen Kommunisten aus mir gemacht".
Alles andere als romantisch war die Realität der Familie. Obwohl die Koestlers selbst von Übergriffen der roten wie später der weißen Truppen nicht direkt behelligt wurden, entschloss sie sich zur Übersiedelung von Budapest nach Wien. Das Jahr 1920 sieht Arthur als Schüler eines Realgymnasiums in Baden bei Wien, während der verbleibenden zwei Jahre bis zum Abschluss lebt er als einer von zwölf Zöglingen eines Knabenpensionats — für ihn „das Fegefeuer".
Besonders deutlich tritt in dieser Zeit eine Eigenschaft zutage, die Koestler lebenslang plagen wird: Schüchternheit und Unsicherheit, wobei seine unterdurchschnittliche Körpergröße eine maßgebliche Rolle gespielt haben dürfte. Der Schüler versucht jedenfalls auf verschiedenen Wegen, seinem Dilemma zu entkommen: Mal überkompensiert er durch lautes, aggressives Verhalten, mal flieht er in die Pose des empfindsamen, poetischen Jünglings „irgendwo zwischen Hamlet und Werther". Wirklich kuriert hat ihn wohl keine der beiden Methoden, noch 20 Jahre nach seiner Schulzeit wird ein Genosse der Komintern zu ihm sagen: „Wir alle haben Minderwertigkeitskomplexe verschiedenen Umfangs, aber der deinige ist kein Komplex — er ist eine Kathedrale." Kaum mit dem Reifezeugnis versehen und dem Fegefeuer entronnen, bezieht der 17-Jährige die Technische Hochschule Wien, wo er sich für das Fach Maschinenbau einschreibt. Und hier beginnt die im Rückblick wohl glücklichste Zeit seines Lebens, weniger im Hörsaal als auf der Bude der jüdischen schlagenden Verbindung Unitas, der er schon beim ersten Besuch begeistert und reichlich bezecht beitritt. Zu dieser Zeit gibt es in Wien zwölf schlagende jüdische Verbindungen. Gegründet wurden sie ganz wesentlich aus dem Impuls, „der Welt zu beweisen, dass die Juden im Duellieren, Saufen, Singen und Bramarbasieren nicht weniger ihren Mann zu stellen verstanden als jeder andere auch", schreibt Koestler. Die 1893 gegründete Unitas war die zweitälteste dieser Verbindungen und galt, so der Studentenhistoriker Fritz Roubinek, als das Corps unter den jüdischen Korporationen, bei dem neben dem Fechten viel Wert auf das Auftreten gelegt wurde. Wer bei Unitas akzeptiert werden wollte, musste beispielsweise einen Frack besitzen — gewiss nicht das schlechteste Aufnahmekriterium — und neben Kneipen waren Theaterbesuche, Konzerte und Bälle fester Bestandteil des Aktivenlebens.
Solcherlei Sorge ums gesellschaftliche Renommee hielt die „Frack-Uniten" freilich nicht von durchaus robusten Auftritten ab — und das mit einiger Regelmäßigkeit. Der Hang zum Handgreiflichen war allerdings nicht dem Naturell der Aktiven geschuldet, sondern dem berüchtigten „Waidhofener Beschluss". Im Jahre 1896 hatten die im Waidhofener Verband zusammengeschlossenen alldeutschen Korporationen festgelegt, dass ein Jude „der Ehre bar" und ihm die Genugtuung mit der Waffe zu verweigern sei. Zwar fochten die sogenannten liberalen Verbindungen durchaus noch mit den jüdischen, doch den „Waidhofenern" gegenüber war die Lage für die jüdischen Korporationen schwierig: „Da sie sich ihren Gegnern nicht mehr mit der ritterlichen Waffe stellen konnten, mussten sie ihre Härte mit Fäusten und Knüppeln beweisen. So wurde die Wiener Universität zum Schauplatz ständiger blutiger Prügeleien", berichtet Koestler. Diese Prügeleien verliefen nach festen Regeln und hatten durchaus ihren eigenen Comment: Einer mehr oder weniger formellen Beleidigung folgten die Feststellung „Herr Kollege, Sie haben mich provoziert", die Übergabe der Visitenkarte, und auf die Frage „Herr Kollege, sind Sie Arier?" ein Schlag mit Faust oder Stock, dann die allgemeine Keilerei, die meist mit Eintreffen der Polizei ihr Ende fand. Da sich jedoch nicht alle schlagenden Verbindungen Wiens an den Waidhofener Beschluss hielten, kam es durchaus auch zu den mit klassischen Waffen ausgetragenen Mensuren, und so hat auch Arthur Koestler immerhin eine reguläre Partie geschlagen.
Ihrem Selbstverständnis nach waren alle jüdischen Verbindungen „zionistisch", setzten sich also explizit für einen Staat Israel im damals britischen Protektorat Palästina ein. Auch Arthur Koestler war bald ein glühender Verfechter dieses Gedankens, der sein Leben in völlig neue Bahnen lenken sollte. Nach einer Begegnung mit Wladimir Jabotinsky folgt er diesem charismatischen Führer einer zionistischen Gruppe ins gelobte Land: Er bricht, wie noch so oft in seinem Leben, „aus der vorgezeichneten Bahn aus", verbrennt sein Studienbuch, ohne das ein Examen praktisch unmöglich ist, und verlässt am 1. April 1926 in einem Zugabteil dritter Klasse seine Heimatstadt Wien, um in Palästina Landarbeiter zu werden. Die aktiven Frack-Uniten geben ihm am Bahnhof in vollem Wichs das Geleit.
Die romantische Idee von der Landarbeit erweist sich jedoch ebenso rasch als Illusion wie andere Versuche, den Lebensunterhalt halbwegs auskömmlich zu bestreiten. Eher zufällig gelingt ihm jedoch die Veröffentlichung eines Artikels in einer deutschen Zeitung, und auf mancherlei Umwegen fasst er schließlich als Nahost-Korrespondent des Berliner Ullstein-Verlages, damals eines der größten Medien- und Verlagshäuser weltweit, im Journalismus Fuß. Auf Anhieb ist er erfolgreich, interviewt Könige, Potentaten und Stammesfürsten und ist erstmals auch finanziell situiert. Dennoch fühlt Koestler sich im Orient zunehmend fehl am Platz — als Kind Europas vermisst er die europäische Kultur — und lässt sich nach Paris versetzen. Das Jahr 1930 schließlich sieht den inzwischen 25-jährigen abgebrochenen Studenten als verantwortlichen Wissenschaftsredakteur der Ullstein-Blätter in Berlin.
Hier vollzieht sich bald ein weiterer wichtiger Wandel im Leben des Autors. Als die NSDAP bei der Reichstagswahl 1931 ihren Stimmenanteil von 12 auf 107 Sitze steigert, erlebt Koestler, dass die liberalen Kräfte in Deutschland ihr Mäntelchen eilig in den Wind hängen und auch die Sozial-demokratie zu zaghaft Widerstand leistet. So erscheint ihm die KPD als einzige Alternative im herrschenden Parteiengefüge, und er steht mit dieser Ansicht nicht allein: „Es war eine Völkerwanderung der Söhne und Töchter des europäischen Bürgertums, die der zerfallenden Welt ihrer Eltern zu entfliehen suchten", schildert er seine „Einsichten nach dem Ereignis". Im Januar 1932 tritt er mit dem Alias Iwan Steinberg heimlich der Kommunistischen Partei Deutschlands bei. Je größer die Hoffnung, desto herber die Enttäuschung — eine Erfahrung, die auch Koestler nicht erspart bleibt. Noch im Jahr seines Beitritts bereist er die Sowjetunion — und dem Jung-Kommunisten kommen erste Zweifel an Ideologie und System, die er jedoch noch nach der „Wo gehobelt wird"-These unterdrückt. So ist es nur konsequent, dass er am Spanischen Bürgerkrieg aufseiten der Linken als Kriegsberichterstatter teilnimmt. Von den Truppen Francos festgesetzt, wird Koestler als Spion zum Tode verurteilt, kommt nach 90 Tagen Haft aber im Zuge eines von Großbritannien initiierten Gefangenenaustauschs frei. Die literarische Frucht dieser Erlebnisse, das „Spanische Testament", verhilft ihm zum Durchbruch als Schriftsteller. Dennoch schreitet die Entfremdung vom kommunistischen Ideal rasch fort, die stalinistischen Schauprozesse führen zu einer unüberbrückbaren Kluft, und Arthur Koestler wendet sich 1938 angewidert und endgültig vom Kommunismus ab.
Seine Erfahrungen verarbeitet er im Roman „Sonnenfinsternis", der 1940 unter dem Titel „Darkness at noon" in England erscheint, ein internationaler Bestseller wird und unstreitig zur Weltliteratur zählt. Das Buch ist eine beeindruckende Abrechnung mit einer mörderischen Ideologie, wobei es gründlich missverstanden würde, läse man es nur auf den Kommunismus stalinscher Prägung bezogen. Koestler selbst beantwortete in einem Gespräch mit dem Kritiker Friedrich Luft 1969 die Frage, ob das ursprüngliche Ideal des Kommunismus ohne den Stalinismus heute noch wirken würde, mit einem klaren Nein: Die Idee des dialektischen Materialismus funktioniere einfach nicht. Und die in der Sonnenfinsternis beschriebenen menschenverachtenden Methoden eines Regimes lassen sich in jedem totalitären System beobachten — was den Roman gerade heute wieder besonders lesenswert macht.
Den Welterfolg der Sonnenfinsternis erlebt der Autor bereits in England, wo er 1940 eine neue Heimat gefunden hatte. Es folgt eine Zeit intensiver journalistischer und schriftstellerischer Arbeit — unter anderem veröffentlicht Koestler im Verlag des späteren Lord George Weidenfeld, der nicht nur ebenfalls aus Wien emigriert, sondern auch Bundesbruder Koestlers bei den Frack-Uniten war. Es entstehen Bestseller wie „Ein Mann springt in die Tiefe", „Der Yogi und der Kommissar" oder „Diebe in der Nacht". Auch Ehrungen und Auszeichnungen bleiben nicht aus: So wird der Schriftsteller zum Kommandeur des Order of the British Empire und zum Ehrenmitglied der American Academy of Arts and Letters ernannt. Zunehmend wendet sich Koestler jetzt allerdings neuen Themen zu, als Romanautor verstummt er fast völlig, wenn auch immer wieder vorwiegend autobiographisch geprägte erzählerische Werke erscheinen. Intensiv beschäftigt er sich jedoch mit Psychologie, Quantenphysik und Evolutionsbiologie und berührt zunehmend wissenschaftliche Grenzbereiche, besonders die Parapsychologie. Aus seiner Feder stammen Bücher über fernöstliche Weisheitslehren, Gesellschaftstheorie oder Psychoanalyse — die Theorien Sigmund Freuds lehnt er übrigens ab. In seinem Spätwerk „Der Mensch — Irrläufer der Evolution" fasst er seine Positionen noch einmal zusammen.
So wie Arthur Koestler Zeit seines Lebens selbstbestimmt gehandelt hat, so bestimmt er, an Parkinson und Leukämie erkrankt, schließlich auch sein Ende selbst: Seit Jahren schon Mitglied der britischen Gesellschaft Exit, die sich für die Legalisierung des Suizids einsetzt, wählt er zusammen mit seiner dritten Frau Cynthia am 1. März 1983 den Freitod. Testamentarisch hatte er verfügt, dass mit seinem Vermögen ein Lehrstuhl für Parapsychologie errichtet werden solle, was 1985 an der Universität Edinburgh auch geschah. Literarisch hinterlässt Arthur Koestler ein Werk, in dem er als Zeitzeuge die Friktionen und Spannungen einer Epoche, aber auch den Menschen in seiner Bedingtheit und Fehlbarkeit schildert und verständlich macht.