Ulrich Chaussy
CORPS - Das Magazin Ausgabe 4/2024
Wikipedia
Forscher, Erfinder, Entdecker: Denkmal für einen vergessenen Ausnahme-Chemiker und Corpsstudenten.
„Ich hatte in der Zwischenzeit den Entschluss gefasst, Chemie zu studieren, und es gab für mich nur einen Wunsch – so schnell wie möglich das geheimnisvolle Gebiet – was ich nur nebelhaft kannte, zu betreten und zu erforschen.“
So erinnert sich Arthur Eichengrün am Ende seines Lebens als Häftling im Konzentrationslager Theresienstadt an die ungeheure Faszination der Chemie, die ihn als 18-jährigen Abiturienten veranlasste, aus einer traditionellen und wirtschaftlich gesicherten Familientradition auszubrechen. Er hätte den Fabrikdirektorjob in der vom Großvater und Vater aufgebauten Aachener Tuchfabrik Eichengrün übernehmen können. Stattdessen wagte er einen Schritt ins Ungewisse. „Mich führte in dies Gebiet ein Buch ein – das mir die Mutter schenkte: Stöckhardt, Die Schule der Chemie. Mit heißen Sinnen las ich darin, mir entstand eine neue, lockende Welt – die mich ganz in ihren Bann schlug und meinen Geist lebhaft beschäftigte!“ An Arthur Eichengrün kann man studieren, wie wissenschaftliche und technische Entwicklungen und Erfindungen festgefügte gesellschaftliche Verhältnisse in Bewegung bringen. So wie dies an der Schwelle vom 20. zum 21. Jahrhundert die Informatik und Computerwissenschaft waren, war es ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Chemie. Die Berufswahl des jungen deutschen Juden Arthur Eichengrün wurde ihm jedoch nicht nur durch die Attraktivität des Faches möglich. Er profitierte auch von einer emanzipatorischen Bestimmung der neuen Verfassung des Wilhelminischen Kaiserreiches von 1871, die manchem heute überraschend anmuten mag: Darin waren den Juden erstmals die gleichen staatsbürgerlichen Rechte auf Bildung und Berufsausübung eingeräumt worden. Eine große Zahl von ihnen nutzte diese Gelegenheit und entschied sich für naturwissenschaftliche Fächer, insbesondere die Chemie. Arthur Eichengrün kam dabei noch ein weiterer Vorteil zugute: In seiner Geburtsstadt Aachen ist 1870 gerade die Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule gegründet und eröffnet worden, die letzte und modernste in einer Reihe von Gründungen im ganzen Reich, die im Zuge der rapiden Industrialisierung der Gründerzeit errichtet wurden. Die Anforderungen gerade in den boomenden Fächern wie Hüttenkunde und Chemie sind hoch. Vom gemächlichen Studentenleben früherer Tage wäre ohne eigene Gemeinschaftsbildung kaum etwas übrig: Das ist die Stunde der Corps und anderer Verbindungen, die sich überall auch in den neuen Universitätsstädten gründen. Eine vielfältige Szene entsteht. Unter dem Dach eines alle einenden deutschen Nationalstolzes bilden sich höchst unterschiedliche Vereinigungen heraus. In ihrer Verschiedenheit repräsentieren und bilden sie das bürgerliche Deutschland mit seinen konfessionellen Grenzen ab und erweisen sich mehr oder weniger durchlässig für Studenten aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus und Hintergründen. Die Ablehnung jüdischer Studenten ist allerdings sehr verbreitet. Deshalb reagieren diese mit der Gründung jüdischer Verbindungen, deren Mitglieder sich naturgemäß aus dem jüdischen Milieu rekrutieren.
In Aachen jedoch schreiben ein junger jüdischer Chemiestudent und der eng der RWTH verbundene „Verein der Chemiker-, Berg- und Hüttenleute“, der sich allmählich zum Corps Montania wandelt, ein ganz eigenes Kapitel in der Geschichte deutscher Studentenverbindungen: Arthur Eichengrün – schon am Namen als Jude erkennbar – bewirbt sich um die Mitgliedschaft im Corps Montania und wird dort vorbehaltlos aufgenommen – natürlich nach den Regularien und Ritualen des Corps, zu denen auch die Mensurprüfung auf dem Paukboden zählte. Das war die eine Seite des Corpslebens, in das er sich mit Eifer stürzte. Man kann dies daran ablesen, dass Eichengrün nur zwei Jahre nach seinem Studienbeginn bereits zum Erstchargierten avanciert war.
Die andere Seite von Arthur Eichengrüns Aktivitäten war sein äußerst zielstrebig betriebenes Studium an der RWTH, für das er im Corps Montania umfangreiche Unterstützung fand. Der Montania-Chronist Franz Ludwig Neher zählt auf: „Wissenschaftliche Zusammenkünfte mit Vorträgen und Kolloquien, Exkursionen, die Einrichtung einer Bücherei und das Abonnieren von Fachzeitschriften wurden beschlossen, ferner betraute der Verein einen fünfgliedrigen Ausschuss mit der Herausgabe von Zeichnungen, die für das Studium der Chemie und der Hüttenkunde unerlässlich waren.“ Die Corpsstudenten bekamen also aus erster Hand Hilfe, eine Art von permanent gewährten Gratisrepetitorien. Diese Hilfe war umso wertvoller, weil sie im Rahmen des Corps von denselben Dozenten kam, darunter vier wichtige Professoren einschließlich des Universitätsrektors, bei denen er Vorlesungen und Praktika besuchte. Nicht ohne Stolz erwähnt Eichengrün, dass er zu einigen seiner Aachener Professoren nach Hause eingeladen wurde: „Vier Semester verbrachte ich dort, sehr gefördert durch Professor Michaelis, der ein Standardwerk der Chemie verfasste und mir überaus gewogen war. Meist zweimal in der Woche lud er mich zum Abendessen ein, aber nicht um mit mir schwierige Fragen der Chemie zu wälzen, sondern mir den Homer im Urtext vorzulesen.“
Sein Studium absolviert er im Schnelldurchgang. Dabei verfolgt er einen festen und ehrgeizigen Plan bei der Auswahl seiner akademischen Lehrer und der Studienorte: In Berlin lasen die führenden Farbstoffchemiker Carl Liebermann und August Wilhelm von Hofmann, für die er für zwei Semester an die dortige Universität wechselt. Dann aber kehrt er eilig nach Aachen zurück. Dort wird er zum Schüler und Doktoranden von Alfred Einhorn, einem Pionier der jungen pharmazeutischen Chemie, der Eichengrün zu einer Doktorarbeit mit dem Spezialgebiet Kokainforschung anregt. In diesem Stoff und seinen unzähligen Derivaten werden in den 1890er-Jahren große medizinische Potenziale gesehen: Als Betäubungsmittel in der Chirurgie, aber auch als Therapeutikum für viele Krankheiten – Sigmund Freud, noch vor seiner Berühmtheit als Begründer der Psychoanalyse, ist nur einer der zahlreichen Propagandisten, die damit auch die weitere Erforschung des Stoffes befeuern. So erforscht und beschreibt zum Beispiel auch Eichengrün in seiner Doktorarbeit ein neues Anästhetikum auf Kokainbasis.
Weil aber weder die Berliner noch die Aachener Universität damals über das Promotionsrecht im Fach Chemie verfügten, lässt er sich von seinem Aachener Doktorvater Einhorn mit der fertigen Dissertation zur Doktorprüfung zu dessen Erlangener Kollegen Otto Fischer schicken. Von dort kann Eichengrün nach vier Tagen Rigorosum im März 1890 nach Aachen zurückkehren. Mit nur 23 Jahren hat er in Rekordzeit den begehrten und damals noch seltenen Titel eines Dr. phil. in Chemie in der Tasche.
Um Eichengrüns Energie und Tatkraft zu ermessen, lohnt ein genauer Blick auf seinen Stundenplan des Jahres 1889: Während er unter Hochdruck im RWTH-Labor für seine Doktorarbeit forscht, experimentiert und sie verfasst, steht er auch in seiner Rolle als Corpsstudent vor einer großen Herausforderung. Ausgerechnet jetzt stellt er sich ihr aus freien Stücken: Im Mai 1889 hatte sich ein Corpsbruder durch einen Vertreter des Turnvereins Rheno-Borussia beleidigt gefühlt, was zu einer PP-Suite führte – erstmalig für das Corps Montania; es besaß noch nicht einmal die dafür nötigen Waffen. Montania-Chronist Franz Ludwig Neher verzeichnet, wer in dieser Situation die Initiative ergreift: „Am 18.5.1889 beschloss die Aktivitas, bei Hahn in Jena eigene leichte Waffen zu bestellen. Der Erstchargierte Eichengrün berichtet darüber im 17. Jahresbericht: ‚Durch die Güte der AH war der Verein in der Lage, sich eigene Waffen anzuschaffen.‘ Die p.p.-Suite wurde an zwei Tagen, am 27. Juni 1889 durch die Aktiven Eichengrün, Hasenclever und von Gimborn, und am 9. Juli 1889 durch die Aktiven Bräutigam, Souheur, Hocks und König ausgetragen.“ Es ist Arthur Eichengrün, der damit den „Verein der Chemiker-, Berg- und Hüttenleute“ endgültig in das pflichtschlagende Corps Montania verwandelt.
Mit der frühen Promotion scheint Eichengrün eine universitäre Karriere vorgezeichnet, zumal er eine begehrte Privatassistentenstelle bei dem international berühmten Farbstoffchemiker Professor Carl Graebe an der Genfer Universität erhält. Aus familiären Gründen jedoch disponiert er um. Nach der Scheidung der Eltern sieht er sich als ältester Sohn in der Pflicht, seine Mutter und seine drei jüngeren Geschwister in Aachen zu unterstützen. Deshalb kehrt er schon ein Jahr später nach Deutschland zurück und wird aufgrund seiner Spezialkenntnisse zum gut bezahlten Betriebschemiker bei C. H. Boehringer in Ingelheim. Dort wurde er eingestellt, um eine Kokain-Produktion aufzubauen. Aber er kehrt der Firma wegen der restriktiven Regeln seines Arbeitsvertrages bald wieder den Rücken, da er Medikamentenentwicklungen nicht auf seinen Namen zum Patent anmelden kann, sondern diese nur der Firma zustehen. Für einen, der sich von Anfang an auf die systematische Suche nach neuen und auf die Verbesserung existierender Wirkstoffe verlegt, ist dieser Kontrakt inakzeptabel. Schon der nächste Arbeitgeber, L. C. Marquart in Bonn, gibt Eichengrün mehr Spielraum – das von ihm verbesserte Wunddesinfektionsmittel Jodoformin kann er 1895 als erstes persönliches Patent beim Britischen Patentamt anmelden. Dabei ist er ständig auf der Suche nach den modernsten Laborstandards, um seine Entwicklungen neuer Pharmazeutika unter idealen Bedingungen voranbringen zu können.
Bei der Recherche über das Dorf Obersalzberg, den Wohnort und zweiten Regierungssitz Hitlers in der Nähe von Berchtesgaden, stößt Ulrich Chaussy Ende der achtziger Jahre auf Arthur Eichengrün. Wer war dieser völlig vergessene jüdische Nachbar Hitlers am Obersalzberg? In drei Jahrzehnten Recherche rekonstruiert Chaussy Eichengrüns Biografie und entdeckt einen der bedeutendsten Chemiker und Erfinder der Kaiserzeit und der Weimarer Republik wieder.
Da trifft es sich gut, dass Carl Duisberg, der Direktor der erfolgreichen Farbenfabriken Friedrich Bayer, Mitte der 1890er-Jahre den bisher stiefmütterlich behandelten Produktzweig Pharmazeutika als eigenständige Abteilung ausbauen möchte, in dem systematisch neue Medikamente entwickelt – und in einem weiteren Labor vor der Markteinführung geprüft werden sollen: Er errichtet dafür ein neues Laborgebäude und preist seinem einstigen Studienkollegen Alfred Einhorn, Eichengrüns Doktorvater, dessen hochmoderne Ausrüstung an. So erfährt Eichengrün von der attraktiven Stelle, bewirbt sich und wird von Carl Duisberg mit dem fürstlichen Jahresgehalt von 5000 Goldmark als Leiter des ersten wissenschaftlich-pharmazeutischen Forschungslabors angestellt. Zu Arbeitsbeginn bringt er Jodoformin mit, das künftig von Bayer produziert wird – und schließt nur wenige Wochen nach seiner Einstellung die Entwicklung eines Medikaments ab, das ihn und Bayer gleichermaßen reich macht: Protargol, auf das Eichengrün das Patent und seitens Bayer Tantiemen erhält, ist auf Jahrzehnte weltweit das erste schonende und wirksame Medikament gegen die Gonorrhoe. Ein halbes Jahr nach Eichengrün stellt Carl Duisberg den renommierten Bonner Universitätsprofessor Heinrich Dreser als Leiter des pharmakologischen Prüflabors ein. Ihm müssen ab sofort alle neuen Wirkstoffe vorgelegt werden. Nur diejenigen, die er für unbedenklich hält, dürfen klinisch getestet, weiterentwickelt und später auf den Markt gebracht werden. Prompt lehnt Dreser aus einer Reihe von Salicylsäurederivaten, die Eichengrün mit seinem Team erarbeitet hat, die von seinem Mitarbeiter Felix Hoffmann in Reinform synthetisierte Acetylsalicylsäure ASS ab: Sie sei ein gefährliches Herzgift. Das hätte das Aus für das spätere Aspirin bedeutet, hätte Eichengrün sich nicht auf riskante Weise widersetzt: Erst testet er ASS im Selbstversuch mit stetig erhöhter Dosis und stellt keinerlei schädliche Nebenwirkungen auf Herz und Kreislauf fest. Dann gibt er ASS-Proben heimlich und unter Umgehung von Dresers Verdikt an Berliner Ärzte und Zahnärzte zur Erprobung. Das ist medizinethisch grenzwertig – nur wenig abgemildert durch seine vorangegangenen Selbstversuche – und überdies ein schwerer Verstoß gegen seinen Arbeitsvertrag, die Duisberg mit dem sofortigen Rausschmiss seines geschätzten kreativen Kopfes hätte quittieren können. Doch als sich Eichengrün mit den durchwegs positiven Rückmeldungen aus den Berliner Arztpraxen seinem Chef Duisberg offenbart, zieht der es vor, offizielle externe klinische Studien der ASS in Auftrag zu geben und den widerstrebenden Professor Dreser mit einem Jahr Verzögerung zu einem die Verträglichkeit der Acetylsalicylsäure lobenden Gutachten zu veranlassen. Dreser kann mit dieser Bayer-internen Niederlage gut leben – er wird an den Tantiemen, die er für jedes Medikament, das sein Labor durchlaufen hat, also auch an Aspirin, ein reicher Mann. Eichengrün muss über den krummen Hergang der Aspirin-Geschichte schweigen, kann sich keine Federn an den Hut stecken und geht finanziell leer aus.
Den Ärger um das Aspirin lässt Eichengrün hinter sich, indem er sich – erneut von Duisberg als Abteilungsleiter eingesetzt –, jetzt bei Bayer um dem Aufbau der fotochemischen Abteilung widmet.
Diese Zäsur bei Bayer um die Jahrhundertwende fällt mit einem Umbruch in Eichengrüns Privatleben zusammen. Schon ein Jahr vor seiner Anstellung bei Bayer hatte Eichengrün 1894 in Berlin seine erste Frau kennengelernt, die Amerikanerin Elisabeth „Lizzy“ Fechheimer aus Portland, die in Berlin Klavier studierte. Als die Eichengrüns nach seiner Anstellung bei Bayer 1896 nach Elberfeld ziehen, ist ihr erstes Kind Elinor schon geboren, und das zweite, der Sohn Edgar, unterwegs. Trotz zweier weiterer Kinder, die Töchter Alice und Lottie, entfremden sich die Eheleute zusehends. Lizzy vermisst das quirlige Berlin und reist regelmäßig dorthin, Arthur geht eine sorgsam geheim gehaltene Affäre mit der verheirateten Holländerin Madeleine Bickenbach ein, die die beiden fern von Elberfeld bei Treffen im Berchtesgadener Land ausleben. Als Madeleine 1903 schwanger wird, werden ihre Ehen geschieden und sie heiraten. Die beiden sind begeisterte Alpinisten. Dass ihre Hochgebirgstouren fotografisch bestens dokumentiert sind, liegt an Eichengrüns zahlreichen bahnbrechenden Neuerungen auf seinen neuen Arbeitsgebieten Fotochemie und Kunststoffentwicklung. Er erfindet die Entwicklerflüssigkeit Edinol und ein rauchloses Blitzlicht, arbeitet Emulsionen für feintönige Fotopapiere aus. Vor allem aber revolutioniert der von ihm eingeführte Rollfilm die gesamte Kameratechnik. Denn erst der flexible und transparente Film auf der Grundlage der Acetylcellulose – dieser Stoff ist Eichengrüns Pioniertat und Ausgangspunkt einer vielfältigen Kunststofffamilie – ermöglicht mobile Kameras. Die außerhalb der Fotostudios kaum einsetzbaren Camera-obscura-Kästen, an deren Rückseite umständlich für jede einzelne neue Aufnahme eine mit Fotoemulsion beschichtete Glasplatte eingesetzt werden musste, können ab jetzt durch vergleichsweise leichte Kameras abgelöst werden, in denen auf Rollen aufgewickelte Filmstreifen zahlreiche serielle Aufnahmen ohne Materialwechsel ermöglichen.
Ab der Jahrhundertwende erleben er und seine Frau Madeleine, genannt Lonne, dass sie im bayerischen Bergdorf Obersalzberg oberhalb von Berchtesgaden von Sommerfrische-Touristen zu Nachbarn werden. Beinahe drei Jahrzehnte sind die Aufenthalte in Obersalzberg integraler Bestandteil ihres Lebens, von 1915 bis 1932 in ihrem Haus Mitterwurf. Im Ersten Weltkrieg wird er zum Zivilinspekteur der Kriegsluftwaffe berufen – sein Spannlack für die textilbespannten Flugzeuge ist ein wehrwichtiges Produkt. Nach seinem Abschied von Bayer entwickelt er in den von ihm in Berlin gegründeten Cellon-Werken aus seinem Urstoff, der unbrennbaren Acetylzellulose eine schier unüberschaubare Produktpalette, auf die er eine Unzahl nationaler und internationaler Patente anmeldet: den unbrennbaren Kinofilm, Schallplatten aus Cellon, Feuerschutzlacke, transparente Cellonbauteile als Glasersatz, dünne, transparente Folien, Cellonlack als Isolierstoff. Schließlich gelingt es ihm, eine Spritzgussmasse aus Acetylcellulose zu entwickeln, für die er mit einem Ingenieur auch noch die dafür notwendige Verarbeitungsmaschine erfindet. Die auf diese Weise millionenfach und schnell herstellbaren Formteile finden in der aufkommenden Elektroindustrie massenhafte Verwendung: als Spulenkerne oder Drehknöpfe, aber auch für Haushaltswaren wie Kämme, Spangen oder Besteckgriffe. Die Reihe lässt sich endlos fortsetzen. Eichengrün kann seine in der Kaiserzeit begonnene Erfolgsgeschichte auch in der Weimarer Republik bruchlos fortsetzen. 1929 befindet er sich auf dem Höhepunkt seiner gesellschaftlichen Anerkennung: Die Technische Universität Hannover verleiht ihm den Doktoringenieur ehrenhalber und preist ihn auf der Urkunde als den „Vater der Acetylcellulose“. Seine Biografie erscheint im Reichshandbuch der Deutschen Gesellschaft – dem deutschen „Who is who“ der Weimarer Republik.
Es gehört zur Tragik dieses genialen Chemikers und Erfinders, dass er die auf ihn zukommende Bedrohung durch den Aufstieg des Nationalsozialismus nicht begriff. Es war für ihn unfassbar, dass ab 1933 all seine Verdienste um die Wissenschaft, als Erfinder und für die chemische Industrie nichts mehr galten. Er, der sich mehr als 60 Jahre als stolzer, patriotisch gesinnter Deutscher verstand und fühlte, wurde von den Nazis nur noch als eines begriffen und behandelt: als Jude. Sofort setzten 1933 die wirtschaftlichen Schikanen gegen Eichengrün und seine Cellon-Werke ein, bis er sie 1938 gänzlich verlor. Erst nach der Pogromnacht versuchte er, zu spät und vergeblich nach Großbritannien zu emigrieren. Nach und nach wurde er gesellschaftlich isoliert: Der deutschösterreichische Alpenverein schloss ihn aus, der Verein der Deutschen Chemiker, und last, but not least, strich ihn das Corps Montania 1935, nach den Nürnberger Rassegesetzen, aus der Mitgliedsliste, dessen Motto „Einer für alle, Alle für einen“ nun für Arthur Eichengrün nicht mehr galt. Der Antisemitismus nistete überall, so auch im Kopf des Präsidenten des Deutschen Reichspatentamtes Dr. Georg Klauer. Er hatte auf einer Patentanmeldung Ende 1942 entdeckt, dass Arthur Eichengrün ohne den für alle Juden vorgeschriebenen Zwangsbeinamen „Israel“ unterzeichnet hatte. Und so brachte Klauers Anzeige wegen Betruges – Eichengrün habe seine jüdische Identität verschleiert – dem greisen Erfinder mit 76 Jahren noch die Deportation nach Theresienstadt ein. Arthur Eichengrün hat Theresienstadt glücklicherweise überlebt und konnte bis zu seinem Tod am 23. Dezember 1949 im bayerischen Bad Wiessee noch erste Zeichen der Rehabilitierung erleben. Doch es wird Zeit, ihn posthum der Vergessenheit zu entreißen, in die er durch die Nationalsozialisten gestoßen worden ist.
Ulrich Chaussy, geb. 1952 in Karlsruhe, deutscher investigativer Journalist und Sachbuchautor. Er besuchte das Wittelsbacher-Gymnasium München und studierte von 1972 bis 1978 Germanistik und Soziologie in München. Ab 1976 arbeitete er als Hörfunk-Journalist für verschiedene der ARD angeschlossene Sender, darunter Bayerischer Rundfunk (BR), Westdeutscher Rundfunk (WDR) und Radio Bremen. Er veröffentlichte zahlreiche Sachbücher, Filme, Dokumentationen und Radio-Features. Seit 1977 befasst er sich besonders stark mit den Themen Rechtsextremismus und Neonazismus. Chaussy war Initiator eines Bürgerbegehrens gegen die Schließung von Stadtbibliotheken und gründete 2004 den Förderverein Bücher & mehr. Er wurde besonders durch seine jahrzehntelangen Recherchen zum Oktoberfestattentat von 1980 bekannt.