Gregor Gatscher-Riedl
CORPS - Das Magazin Ausgabe 1/2023
Mit Lemberg und Czernowitz bestehen in der heutigen Westukraine zwei traditionsreiche Hochschulstandorte, deren Geschichte bis ins 17. Jahrhundert zurückreicht. In altösterreichischer Zeit entwickelte sich an Poltwa und Pruth eine vielfältige und national diverse Verbindungsszene, die dem besonders korporationsreichen Czernowitz sogar den Ehrennamen „Heidelberg des Ostens" eintrug.
Rund 70 Hoch- und Mittelschulverbindungen deutscher, ukrainischer, polnischer und rumänischer Sprache lassen sich an der Czernowitzer Universität nachweisen, wozu als zahlenmäßig stärkste Gruppe die jüdisch-nationalen Korporationen kommen. Einzigartig in der zumindest österreichischen Couleurgeschichte ist wohl auch der Umstand, dass die 1875 zum 100-jährigen Jubiläum des Anfalls der Bukowina an die Habsburger vollzogene Gründung der Franz-Josephs-Universität bis zu einem gewissen Grad eine verbindungsstudentische Angelegenheit gewesen ist, die von Vertretern der Wiener akademischen Landsmannschaft Bukowina vehement vorangetrieben wurde. Der heute längst vergessenen blau-rot-goldenen Korporation gehörten der Motor der Hochschulgründung, Constantin Tomaszczuk, Reichsratsabgeordneter und erster Rektor, oder der Czernowitzer Bürgermeister Eduard Reiss an.
Die Vortragssprache der neuen Universität, der allerdings eine medizinische Fakultät fehlte, war größtenteils deutsch, womit eine Einbettung in die mitteleuropäische Geisteslandschaft ermöglicht wurde. Lehrende wie Joseph Schumpeter, die Kriminologen Hans Gross oder Adolf Lenz und Studenten wie der berühmtberüchtigte Burschenschafter Hermann Bahr sorgten für entsprechende Rückkopplungen. Trotz der deutschen Lingua franca war in der Stadt und dementsprechend der Hochschule genug — wenngleich nicht zu allen Zeiten konfliktfreier — Raum für studentische Nationskulturen.
TRANSFER DER CORPSIDEE VOM INN AN DEN PRUTH
Noch im Gründungsjahr waren erste Korporationen entstanden. Älteste Verbindung am Ort war das am 17. Oktober 1875 gestiftete Corps Austria mit den habsburgischen Farben Schwarz-Gold-Schwarz, gegründet von Richard Strele von Bärwangen, einem Mitglied der Innsbrucker Athesia. Die aufgrund der identischen Bandfarben oft behauptete Affinität der Gründergeneration zum Weinheimer Corps Stauffia in Stuttgart hält keiner Überprüfung stand. Austria war im altösterreichischen Verständnis der Donaumonarchie übernational eingestellt und hatte „jegliche politischen, nationalen und religiösen Tendenzen" ausgeschlossen. Am 14. Juni des Folgejahres erhielt Austria Verstärkung durch die grün-weiß-goldene Gothia, und am 13. Mai 1877 entstand mit der schwarz-blau-goldenen Alemannia das jüngste und langlebigste der Czernowitzer Corps. Hier ist den gleichfarbigen Bändern tatsächlich ein Naheverhältnis zur Wiener Alemannia (heute in Linz) gefolgt.
Der Czernowitzer SC fand 1879 den Weg in den Melker Senioren-Convent, dem er bis zu dessen Ende 1887 angehörte. An den darauf folgenden „Vorkösener"-Verbandsbildungen nahmen die Czernowitzer nicht mehr teil. Einen Vorstoß zur Aufnahme unternahm Alemannia am oKC 1922, allerdings wurde der Antrag in der Sitzung mit der Begründung zurückgezogen, dass es sich bei der nach 1918 von Rumänien verwalteten Universität Czernowitz um eine „nicht deutsch-sprachige Hochschule" handle.
An weiteren Korporationen waren noch im Gründungsjahr 1875 die „Lesehalle", die rumänische akademische Verbindung Arboroasa und der blau-gold-blaue Bänder tragende, freischlagende ukrainische Verein Sojuz getreten. Die ukrainischen, in der k.u.k.-Behördensprache als „Ruthenisch" bezeichneten Hörer fanden bald zu weiteren Gruppierungen zusammen, etwa dem Verein Sitsch und mehreren „Kosakenschaften". Diese in Czernowitz ersonnene Bezeichnung verknüpfte den Ausdruck Burschenschaft — hier bestanden in Czernowitz Arminia (heute ebenfalls in Linz) und Teutonia mit der Überlieferung und dem Mythos der freien Kosaken als Ausdruck des ukrainischen Selbstbewusstseins.
CZERNOWITZER COULEUR-KOSAKEN
Entsprechend forsch traten die Czernowitzer Couleur-Kosaken auch auf, unbedingte Genugtuung war daher „de rigueur". Die erste derartige Gründung war die rot-weiß-goldene Saporosche, der besonders Politiker wie Mykola Graf Wassilko, Abgeordneter der ukrainischen nationaldemokratischen Partei im Wiener Reichsrat, oder Ormelian Popowicz, 1918/19 Präsident der vorübergehenden ukrainischen Regierung der im Anschluss rumänisch gewordenen Bukowina, angehörten. Saporosche hatte ebenso wie die drei Jahre darauf entstandene, nach dem Schwarzen Meer benannte Tschornomore eine Damensektion, die dem waffenstudentische Reglement natürlich nicht unterworfen waren.
Nachdem Czernowitz dem Sowjetreich einverleibt worden war, war für Verbindungen das Ende gekommen, Saporosche bildete einen Altherrenverband in Deutschland, der 1990 eine Reaktivierung, ausgehend vom Wirtschaftsstudenten und späteren Kiewer Abgeordneten Oleg Chawyc, erfolgreich durchführen konnte. Der Czernowitzer SC hatte sich schon in rumänischer Zeit aufgelöst. Austria war ab 1918 unter diesen Namen in „Groß-Rumänien" chancenlos, ihre Mitglieder wurden von den beiden anderen übernommen. Gothia suspendierte 1926, Alemannia im Jahr darauf, konnte aber 1932 wieder den Betrieb eröffnen. Die endgültige Einstellung erfolgte 1937, wobei ab 1954 im oberösterreichischen Schärding und anderen Orten zu jährlichen Treffen der im gesamten deutschen Sprachraum verteilten Philister eingeladen wurde. Diese Initiativen konnten mithilfe der durch zahlreiche Bandverleihungen verbundenen Linzer Alemannia, die heute das Archiv und die Tradition der Czernowitzer Namensschwester verwahrt, bis in die 1980er-Jahre aufrechterhalten werden.
Nach dem Ersten Weltkrieg übersiedelte die beengte Universität in das Gebäude des Galizischen Landtags. Anlässlich eines Treffens polnischer Korporationen 1927 haben Abordnungen der Lemberger Studentenverbindungen mit Fahnen und Chargierten im ehemaligen Sitzungssaal Aufstellung genommen. Narodowe Archiwum Cyfrowe, Warschau.
Von Czernowitz verpflanzte sich das Couleurleben an die seit 1661 bestehende Universität der galizischen Landeshauptstadt Lemberg. Dort hatte sich das Studentenleben bislang in äußerst geruhsamen Bahnen entwickelt. Benedikt Gregorowicz betonte in seinen Erinnerungen, dass es während seiner Studienjahre um 1830 „keine Festgelage von Burschenschaften gegeben habe". Die älteste Gründung an der seit 1867 polonisierten Universität war das am 20. Juni 1893 konstituierte Corps Leopolia mit den Farben Hellgrün-Dunkelrot-Hellblau (Fuchsenbänder: Hellgrün-Dunkelrot) auf oben weiß-goldener, unten gold-weißer Perkussion. Als Mützenfarbe wählten die Stifter Grün. Die Einrahmung der Bänder ergibt mit dem Hellgrün des Bandes die Farben der Czernowitzer Gothia, deren grüne Kopfcouleur in heller Tönung ebenfalls übernommen wurde. Der Wahlspruch „Unus pro omnibus, omnes pro uno!" stellt in latinisierter Form die Devise der Czernowitzer Gothen „Einer für alle, alle für einen!" dar. Die Namensfindung der Korporation leitet sich aus dem neulateinischen Stadtnamen ab, der die Geschichte des bedeutenden und multikulturellen Handelszentrums zwischen West und Ost evoziert.
Die in die polnischsprachige Hochschullandschaft der Stadt eingepflanzte Verbindung war deutschsprachig, wobei sich diese Entscheidung weniger aus einem nationalen Verständnis speiste als aus dem Umstand, dass Deutsch auch von den Czernowitzern gesprochen wurde und als Lingua franca der österreichischen Reichshälfte der Doppelmonarchie galt: „Deutsch, das war das Esperanto der Donauländer", hat mein Bundesbruder Ernst Trost einmal punktgenau formuliert.
BIERLAUNIGER POLITSKANDAL IN CZERNOWITZ
Anders als in Czernowitz, wo der farbentragende Student etablierter Bestandteil des Stadtbildes war, stieß die Stiftung in Lemberg auf vielfachen Widerstand. Der Bogen der Vorwürfe reichte von der im Corps betriebenen klandestinen Deutschtümelei bis zur Ablehnung der waffenstudentischen Praxis des auf den Grundsatz der unbedingten Satisfaktion und einer entsprechenden Partienzahl verpflichteten Corps. Umso stärker positionierte sich Leopolia in der Öffentlichkeit als staats- und dynastiebejahende Korporation. Wichschargierte des in der polnischen Presse als „burszenszaft" bezeichneten Corps nahmen am Trauergottesdienst für die ermordete Kaiserin Elisabeth im Lemberger Dom teil, und lobend wurde sogar in Wiener Blättern erwähnt, dass drei-öchige Farbentrauer gehalten wurde.
Dieses positive Image erhielt aber bald tiefe Risse: Leopolia verkehrte intensiv mit den gut 280 Kilometer entfernten Czernowitzern, wo der Stoffkonsum manchem Aktiven die Zunge lockerte. Auf einer Kneipe im Wintersemester 1898/99 bei Alemannia im Beisein der Czernowitzer polnischen Verbindung Ognisko und des Rektors verstieg sich ein Leopolit während seiner Grußworte dazu, neben der Lobpreisung der Leopolia als Hüterin des Corpsgedankens den Lemberger Akademischen Senat als Hort österreichfeindlicher, sezessionistischer Gesinnung zu brandmarken. Ognisko verließ daraufhin korporativ den Saal, und kurz darauf fand eine Wiedergabe der Rede ihren Weg in den polnischen Blätterwald, wo es einen Sturm der Entrüstung hervorrief. Der Kurjer Lwowski titelte „Kampf dem deutschen Ungeziefer", bezichtigte das Corps des übermäßigen Alkoholkonsums, der Streitsucht und der Herabwürdigung des polnischen Patriotismus. Erst die Entlassung des Wortführers der Czernowitzer Kneipe ließ das Corps zur Ruhe kommen.
Erst weit nach 1900 schöpfte Leopolia neues Selbstvertrauen. Die Stiftung des Corps Gasconia mit rot-weißen Bändern im Frühjahr 1909 bescherte eine Schwester-, wenn nicht sogar Tochterverbindung, die auch bald nach der Gründung mit den Czernowitzer Corps in ein Pauk- und Anstandsverhältnis eintrat. Allerdings war im Zeitraum zwischen 1911 und 1913 Leopolia das einzige Corps, das der Czernowitzer Alemannia, die im Czernowitzer Seniorenconvent völlig isoliert war, Partien stellte.
Spätestens mit Kriegsausbruch 1914 hat das aktive Leben der beiden Lemberger Corps ein Ende gefunden, sie wurden, nachdem die Stadt nach dem Zusammenbruch der Donaumonarchie an die Zweite Rzeczpospolita gefallen war, nicht wiederbelebt. Das Philisterium bestand allerdings weiter, Zusammenkünfte sind bis in die 1930er-Jahre nachgewiesen. Als sich Anfang der 1920er-Jahre polnische farbentragende Verbindungen in Lemberg zu etablieren versuchten, wirkte das Vorbild der beiden Corps noch nach. Die 1923 gegründete Leopolia sollte zunächst Roxolania benannt werden, um nicht in den Verdacht der Fortsetzung der übel beleumundeten Vorkriegskorporation zu kommen.
Von den einstigen Lemberger Korporationen führt lediglich die 1926 gegründete und 2007 unter Aufgabe des waffenstudentischen Charakters in Breslau reaktivierte polnische Verbindung Cresovia Leopoliensis die mit Leopolia 1893 aufgenommene Entwicklung in die Gegenwart. „Corpsprinzip — ein Wort, das viel, sehr viel Gutes, Schönes und Edles deckt. Wer da je einen Einblick genommen hat, der weiß es zu schätzen, das Corpsprinzip, und der weiß es ganz besonders zu würdigen, was hier, im ,fernen Osten, das Corpswesen zu bedeuten hat". Das spürte man bereits 1907 im benachbarten Czernowitz, wo genau 90 Jahre später das einst in der Stadt ersonnene Dreifarb Grün-Rot-Blau durch die neu gegründete, fakultativ schlagende und ebenfalls in altösterreichischer Tradition wurzenden Akademische Verbindung Bukowina erwählt wurde.
Gregor Gatscher-Riedl (* 25. November 1974 in Mödling) ist ein österreichischer Historiker, Journalist und Archivar. Gatscher-Riedl besuchte in Perchtoldsdorf die Volksschule und das neusprachliche Bundesgymnasium und Bundesrealgymnasium Perchtoldsdorf. Nach der Matura studierte er ab dem Wintersemester 1993/94 an der Universität Wien Rechtswissenschaft. Im Wintersemester 1994/95 wechselte er zu Geschichte und Politikwissenschaft. Die Sponsion zum Mag. phil. war im Wintersemester 2001/02. Die Diplomprüfung absolvierte er am 17. Oktober 2001 „mit Auszeichnung“. Ab dem Wintersemester 2005/06 betrieb er ein Doktoratsstudium der Philosophie und Geschichte an der Universität Wien. Nachdem er das Rigorosum am 18. Jänner 2008 „mit Auszeichnung“ absolviert hatte, wurde er zum Dr. phil. promoviert. Am Hans-Sachs-Institut in Wels durchlief er den Lehrgang zum Master of Public Administration. Die Sponsion war am 26. April 2010. Im Sommersemester 2011 betrieb er in der Slowakei ein Rigorosenstudium Central European Studies an der Philosoph Konstantin-Universität Nitra. Das Rigorosum war am 8. November 2011. Als Mitglied der Schülerverbindung Sonnberg in Perchtoldsdorf (1991), der katholischen Pennalie „Buchengau“ zu Czernowitz und der Nibelungia Wien im Österreichischen Cartellverband (1994) veröffentlicht er Beiträge zur Studentengeschichte. Von 1996 bis 1998 engagierte er sich im Forschungsprojekt „Nationalsozialismus in Linz“, das vom Archiv der Stadt Linz betreut wurde. Seit August 1999 leitet er das Archiv von Perchtoldsdorf. Von September 2000 bis Jänner 2001 und von Oktober 2001 bis Jänner 2002 stand er im freien Dienstvertrag zum Institut Österreichisches Biographisches Lexikon und zur biographischen Dokumentation der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Von Februar 2002 bis Jänner 2003 leistete er Zivildienst in Österreich bei der Bundespolizeidirektion Wien. Dort war er Vertrauensmann der Zivildienstleistenden. Seit dem 1. Juli 2003 Vertragsbediensteter der Marktgemeinde Perchtoldsdorf, zum 1. Mai 2012 wurde er Beamter. Neben seinem Hauptberuf veröffentlicht er bei den Niederösterreichischen Nachrichten, Bezirksausgabe Mödling/Perchtoldsdorf, sowie bei der Zeitschrift David. Bei der Heimatkundlichen Beilage zum Amtsblatt der Bezirkshauptmannschaft Mödling hat er die Chefredaktion über. Bei der Raiffeisenregionalbank Mödling eGen ist er Genossenschaftliches Vorstandsmitglied. Bei der Dr. Ladislaus Batthyány-Strattmann-Gebetsgemeinschaft zur Heiligsprechung des Arztes der Armen ist er Geschäftsführender Präsident.
Quelle: Wikipedia